Experteninterview zum Thema „DIABETES – IMMER MEHR ERKRANKEN, OHNE ES ZU WISSEN“
Können Sie aufgrund der Erfahrungen in Ihrer Diabetes-Praxis bestätigen, dass immer mehr Menschen im mittleren Lebensalter an Diabetes erkranken?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Ja, das kann ich bestätigen. Das liegt zum einen daran, dass leider immer mehr Menschen übergewichtig bis adipös sind und sich zu wenig bewegen. Aber auch eine verbesserte Diagnostik trägt dazu bei, dass Diabetes heute früher erkannt wird. Trotzdem ist die Dunkelziffer nach wie vor zu hoch: Eine Untersuchung in der Region Augsburg hat ergeben, dass auf jede Person mit bekanntem Diabetes eine Person mit bis dahin nicht diagnostiziertem Diabetes kommt. Es muss also noch einiges für die Früherkennung getan werden.
Kommt es häufig vor, dass Diabetiker nichts von ihrer Erkrankung ahnen und bei der Diagnose sozusagen aus allen Wolken fallen?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Ja, das kommt häufig vor, da ein erhöhter Blutzuckerspiegel lange Zeit keine Beschwerden verursacht. Leider wird ein Diabetes viel zu oft erst diagnostiziert, wenn bereits Folgeerkrankungen wie Nervenschäden (Neuropathien) oder ein Herzinfarkt auftreten. Etwa zwei Drittel aller Herzinfarkt-Patienten haben einen gestörten Zuckerstoffwechsel, von dem sie vor dem Infarkt noch nichts wussten.
Wer zählt zu den Risikokandidaten für einen Diabetes und sollte sich daher regelmäßig untersuchen lassen?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Rund 90 Prozent der Patienten mit Diabetes sind vom Typ-2-Diabetes betroffen, der stark durch genetische Faktoren und den Lebensstil beeinflusst wird. Besonders gefährdet sind Menschen, die Verwandte mit einem Typ-2-Diabetes haben, die zu bauchbetontem Übergewicht neigen und sich wenig bewegen.
Lässt sich bei der Neudiagnose eines Diabetes abschätzen, seit wie vielen Jahren die Erkrankung bereits besteht, wie lange also die Zeitspanne ist, in der die Betroffenen nichts von ihrer Erkrankung wussten?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Wenn bereits Folgeerkrankungen wie Nieren-, Nerven- oder Augenschäden vorliegen oder ein Herzinfarkt auftritt, geht man davon aus, dass der Diabetes im Schnitt schon mindestens fünf bis zehn Jahre unerkannt bestand. Allerdings kann man das nicht eindeutig sagen, da manche Patienten Folgeerkrankungen früher entwickeln als andere, wie z. B. eine diabetische Neuropathie. Diese Komplikation tritt nicht selten schon im Vorstadium des Diabetes auf, ebenso der Herzinfarkt.
Wie wichtig ist die frühe Erkennung eines Diabetes, wenn es um die Entwicklung von Begleit- und Folgeerkrankungen geht?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Die Früherkennung ist von essenzieller Bedeutung. Je eher ein Diabetes behandelt wird, umso besser lassen sich Folgeerkrankungen vermeiden oder zumindest hinauszögern.
Ist auch bei der Behandlung von diabetesbedingten Nervenschäden der Zeitfaktor wichtig? Erreicht man mehr, je früher die Therapie beginnt?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Ja, das gilt auch für die diabetische Neuropathie. Je eher und konsequenter eine gute Blutzuckereinstellung erfolgt, umso besser können Nervenschäden verhindert werden. Oder anders herum: Je länger schädigende Einflüsse, wie der erhöhte Blutzucker, auf die Nerven einwirken, umso größer ist der Anteil der irreversibel geschädigten Nervenfasern.
Mit welchen diabetischen Folgeerkrankungen sind Sie in Ihrer Diabetes-Praxis konfrontiert?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Da der erhöhte Blutzucker sowohl den Nerven als auch den Blutgefäßen schadet, können die Folgeerkrankungen viele Organe betreffen und teilweise schwerwiegende Komplikationen nach sich ziehen. In unserer Praxis werden wir mit allen typischen Folgeerkrankungen konfrontiert, wie Nierenfunktionsstörungen (Nephropathie), Augenerkrankungen (Retinopathie), Nervenstörungen (Neuropathie), Durchblutungsstörungen, Herzinfarkt und Schlaganfall. Um schwerwiegende Komplikationen rechtzeitig festzustellen oder zu vermeiden, sollten Diabetiker einmal im Jahr ihre Nierenwerte, die Blutfette, den Urin, die Augen und die Füße untersuchen sowie ein EKG durchführen lassen.
Durch welche Symptome können sich diabetische Nervenstörungen äußern?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Die Beschwerden können sehr vielfältig sein. Meist äußern sie sich zuerst an den Zehen oder Füßen, seltener in den Händen, durch beidseitig auftretende Beschwerden wie Kribbeln, Brennen, Schmerzen, Überempfindlichkeit oder ein Pelzigkeitsgefühl. Typischerweise werden diese Symptome in Ruhe stärker. Bei etwa der Hälfte der Patienten nimmt die Sensibilität der Nerven ab, was sich durch eine reduzierte Wahrnehmung von Temperatur, Berührung und Druck äußert, bis hin zur Taubheit. Die Betroffenen spüren dann oftmals keine Verletzungen, wodurch eine offene Wunde entstehen kann. Auch Gangunsicherheit und Muskelschwäche können auf eine diabetische Neuropathie hinweisen. Es können aber auch die vegetativen Nerven von der Störung betroffen sein, die die inneren Organe steuern. Man spricht dann von einer autonomen Neuropathie. Diese kann z. B. Funktionsstörungen des Magen-Darm-Trakts oder des Urogenital-Trakts nach sich ziehen. Sie kann auch dazu führen, dass eine Unterzuckerung oder ein Herzinfarkt von den Betroffenen nicht wahrgenommen werden.
Was sollen Betroffene tun, die unter Empfindungsstörungen wie ständigem Kribbeln in Armen und Beinen leiden?
- Dr. Helga Zeller-Stefan: Zunächst sollten die Betroffenen ihren Hausarzt konsultieren, der durch neurologische Routine-Untersuchungen in der Regel feststellen kann, ob es sich um eine Neuropathie handelt. Das weitere Vorgehen hängt dann vom Befund ab. Der Hausarzt wird entscheiden, ob die weitere Behandlung eventuell durch einen Diabetologen oder Neurologen erfolgen sollte.
Wie lassen sich diabetische Nervenstörungen am besten behandeln?
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Dr. Helga Zeller-Stefan: An erster Stelle stehen alle Maßnahmen, die zu einer möglichst optimalen Blutzuckereinstellung beitragen, vom Medikament bis zur gesunden Ernährung und regelmäßiger Bewegung. Außerdem sollten weitere belastende Faktoren wie Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen behandelt sowie das Rauchen und ein übermäßiger Alkoholkonsum vermieden werden.
Zusätzlich gibt es gut verträgliche, vitaminähnliche Wirkstoffe, die der Nerven- und Gefäßschädigung entgegenwirken, wie das Benfotiamin. Diese Vorstufe von Vitamin B1 kann die Symptome der Neuropathie lindern und die Nervenfunktion positiv beeinflussen. Schließlich kann der Arzt bei sehr starken Beschwerden noch Schmerzmittel verordnen, die allerdings nur die Symptome behandeln und auch potenzielle Nebenwirkungen haben.
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